16.

Wie in Dantes Hölle gibt es auch in Hollywood viele Stufen. Sie gehen selten oder nie ineinander über, höchstens bei der Arbeit. Ich, Laura Richie, bin auf Bühnen gewesen, bei Fernsehaufnahmen, Filmaufnahmen, Außenaufnahmen. Sie dürfen mir glauben, daß das etwas ist, was sich nie verändert.

Der technische Stab, die Tontechniker, die Kameramannschaft, die Designer der Beleuchtungseffekte, die Vorarbeiter und Handlanger gehören auf eine Stufe. Die Herren im grauen Tuch, die für Produktion, Budget, Öffentlichkeitsarbeit und Vertrieb zuständig sind, auf eine andere.

Dazu kommen noch diejenigen, die um die Talente herum sind, ohne richtig dazuzugehören. Sie spielen kleine Rollen, treten in Massenszenen oder im Hintergrund auf und sorgen für gewisse farbige Akzente.

Selbstverständlich gibt es die Stars. Bei einer erfolgreichen Fernsehshow wird die Handlung um sie aufgebaut, der Zeitplan richtet sich nach ihnen, genau wie der Service. Eigentlich leistet jeder den Stars einen Service.

Doch auch bei einer Show, in der der Star das Sagen hat, steht der Direktor oder Regisseur auf der obersten Stufe. Nur darf man nicht vergessen, daß es die oberste Stufe zur Hölle ist.

Die Hölle versucht, dreihundert Leute in der richtigen Kleidung, bei passendem Wetter, optimalen Lichtverhältnissen, mit dem richtigen Text an den richtigen Ort zu befördern und sicherzustellen, daß das, was aufgenommen oder gefilmt oder live aufgeführt (was Gott verhüten möge!) werden soll, den Vorstellungen des Regisseurs entspricht. So läuft das zumindest theoretisch ab.

Marty DiGennaro gedachte die Theorie in die Praxis umzusetzen. Er wollte eine Show aufnehmen, wie es sie noch nie gegeben hatte. Dafür mußte er sich total auf seine Arbeit konzentrieren. Er besaß die richtigen Voraussetzungen für einen Hit. Die ersten drei Drehbücher lagen ihm vor, die Besetzung stimmte, die Mannschaft war komplett. Nur eines ließ ein wenig zu wünschen übrig: die Konzentration.

Denn seit er Lila Kyle kennengelernt hatte, ging sie ihm nicht mehr aus dem Kopf.

Marty DiGennaro sah sich in seiner Traumfabrik um. Auch jetzt noch, viele Jahre nach dem ersten Erfolg, konnte er es kaum glauben, daß all diese Spielsachen zu seiner ausschließlichen Verfügung standen. Ihm, dem komischen, kleinen italienischen Kind, das in Queens aufgewachsen war! Marty war zu schwächlich gewesen, um mit den Jungs aus der Nachbarschaft mitzuhalten. Er war ein mieser Schüler, ein Versager bei den Mädchen, unsportlich, ungeschickt. Sooft es ging, flüchtete er in die dunklen Vorführräume der Kinos. Dort fand er Zuflucht. Es wurde sein Zuhause. Nun hatte die Filmindustrie ihm ein praktisch perfektes Leben beschert.

Sein Privatleben ließ jedoch zu wünschen übrig. Er fand es schwer, fast unmöglich, echte Freunde zu finden. Denn alle versuchten, ihn auszunützen. Auch Joanie, seine künftige Ex-Frau, hatte von ihm profitiert und ihre Karriere mit Hilfe seiner Beziehungen aufgebaut. Das störte ihn nicht. Doch als er sein Kind haben wollte und darauf bestand, daß sie mit Sasha zu Hause blieb, hatte sie ihn verlassen.

Inzwischen konnte er praktisch alle Frauen haben. Sie kamen nur zu gern zu ihm. Ihm gefiel das nicht sonderlich. Denn trotz seiner Erfolge, seiner Macht, seines gewaltigen Reichtums und seiner Beziehungen fühlte er sich noch immer als magerer, hässlicher kleiner Italiener mit ungeschickten Händen. Er vermutete, daß die vielen Frauen, die zu ihm kamen, wenig von seinen Liebeskünsten hielten und ihre Lust nur vortäuschten. Auch er fand sie eher lästig und forderte die Damen selten auf, ihn ein zweites Mal zu besuchen. Für ihn zählte nur die Arbeit. Sonst nichts.

Hollywood staunte über die Erfolgsserie, auf die Marty zurückblicken konnte. Sie fragten sich, mit welchen Tricks oder Zauberformeln er das schaffte. Doch es gab weder das eine noch das andere.

Eigentlich befand er sich immer auf der Suche nach neuen Nervenkitzeln. Allmählich verlor alles an Reiz: Die Oscar-Nominierungen, ja, die Verleihung eines Oscars, auch das Glückspiel in Las Vegas.

Darum war ihm die Idee mit dem Fernsehen gekommen. Das letzte große Gebiet, das er noch nicht erforscht hatte, weil er das, was in diesem Medium gezeigt wurde, für unterdurchschnittlich hielt, alles schon zigmal gesehen. Immerhin stimmte die Zuschauerquote. Wenn er, Marty DiGennaro, nun ganz allein dafür sorgte, daß einer der notleidenden Sender, die ums reine Überleben kämpften, weil ihnen Kabelfernsehen und Videokassetten den Rang abliefen, wieder gute Einschaltquoten verzeichnen konnte? Er würde von Les Merchant als Held verehrt werden. Doch darüber hinaus würde er unbegrenzten Freiraum erhalten. Er konnte sich Stunden Zeit lassen, um seine Darsteller zu formen und zur Entfaltung zu bringen und mußte sich nicht auf die lausigen 120 Minuten beschränken. Konnte man etwas noch nie Da-gewesenes schaffen? Konnte Mary das schaffen?

Der Gedanke fesselte ihn. Zufällig fiel ihm ein Remittendenexemplar von Three für the Road in die Hände, geschrieben von einer unbekannt gebliebenen Autorin namens Grace Weber aus Jersey. Nachdem er den Stoff gelesen hatte, wußte er, daß er damit seine Story hatte. Er kaufte die Rechte für einen lächerlichen Betrag. Zum erstenmal spürte er wieder Erregung bei einem Projekt.

Das Drehbuch, die Besetzung, die Crew standen Marty zur Verfügung. Doch er fürchtete sich. Denn wenn er einen Flop landete, würden die neidischen Hunde der Stadt — und es gab hier gar keine anderen — fröhlich auf seinem Grab tanzen. Doch die Furcht, die er empfand, ließ ihn auch spüren, daß er lebte. Er spielte wieder mit.

Jahne und Pete trafen nie zusammen im Studio ein. Pete war dankbar für den Job, den sie ihm vermittelt hatte und respektierte ihre Erklärung, daß es geschickter war, ihre Beziehung geheim zu halten, weil Marty sonst Einspruch einlegen würde.

Entsprach das der Wahrheit? Aufgeregt und nervös wie sie sich fühlte, empfand sie Pete als zusätzliches Problem, auf das sie lieber verzichtet hätte. Ihr Verhältnis mit Pete war besser als nichts. Doch mehr auch nicht. Ein warmer Körper an ihrer Seite, ein guter Sexpartner, ein lieber Kerl, doch keiner, der sie je verstehen würde.

In gewisser Weise machte diese Beziehung Jahne einsamer, als wäre sie ganz allein gewesen. Sie konnte ihm ja nichts von ihren Gefühlen erzählen. Wie sollte ein junger Mann wie Pete, ehrlich, anständig und unkompliziert, das nachempfinden, was sie durchmachte?

Jahne hatte sich noch nie in ihrem Leben so gefürchtet wie jetzt.

Sharleen verließ ihren Wohnwagen, der ihr als Garderobe diente. In der Hand hielt sie die Bibel ihrer Mutter. Bis zu diesem Zeitpunkt kam ihr das alles noch unwirklich vor. Der Vertrag, die Fototermine, die Begegnung mit vielen wichtigen Leuten.

»Miss Smith«, sprach sie ein Mann mit Kopfhörern an. »Mr. DiGennaro bittet Sie, zu der Besetzungsbesprechung zu kommen.«

»Habe ich mich etwa verspätet?« fragte sie erschrocken.

»Nein, Miss Smith. Miss Kyle ist auch noch nicht da.«

Sharleen stelzte vorsichtig über die Stromkabel für Beleuchtung und alle möglichen Apparate. Sie fürchtete nicht nur, darüber zu stolpern. Mehr Sorgen machte ihr, daß sie etwas beschädigen könnte. Überall Menschen! Manche mit Notizbüchern, viele mit Kopfhörern.

»Sharleen!« Mr. DiGennaro kam ihr entgegen. »Ich möchte Sie gleich vorstellen.«

»Das alles kommt mir wie ein Zirkus vor, den wir früher mal in unserer Stadt hatten. Alles passiert gleichzeitig. Nur beim Zirkus gab es einen Dompteur, der das im Griff hatte. Wissen die alle, was sie tun müssen?« fragte Sharleen.

Marty lachte. »Ja, dafür sorge ich. Ich bin der Direktor und in der Hinsicht so ähnlich wie ein Dompteur. Wenn ich den Überblick verliere, ist der Teufel los. Das ist Ted Singleton, der für die Spezialeffekte zuständig ist. Das ist Dino, meine rechte Hand. Bob Burton ist zuständig für die Garderobe. Jim Sperlman, Beleuchtungsspezialist. Der mit den Pausbacken ist mein neuer Zweiter Direktor, Barry Tilden, und dort drüben das ist Charley Bradford, Berater von Harley Davidson... «

»Mr. DiGennaro, bitte nicht soviel auf einmal. Ich weiß ohnehin nicht, was diese Jobs alle bedeuten. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, möchte ich mir für den Moment lieber nur die Namen merken.« Sie lachte. »Ich weiß ja momentan noch nicht mal, was mein Job ist. Aber ich werde es schon noch begreifen.« Sie wandte sich an sie alle, bevor sie sich an den Konferenztisch setzte: »Ich bin die Sharleen. Hallo allerseits.« Sie wunderte sich, warum sie Lila und Jahne nicht sah. Sie hatte beide natürlich schon kennengelernt, fürchtete sich aber trotzdem vor dem Zusammentreffen mit ihnen. Die beiden waren wirklich schön. Lieber Gott, wie hast du es nur fertiggebracht, daß ich neben denen spielen darf? dachte sie. Sie lächelte alle strahlend an, und ihr Lächeln wurde erwidert. Alle sind so nett hier in Hollywood, fand Sharleen. Viel netter als in Bakersfield.

Jahne Moore mußte nicht aufgefordert werden zu erscheinen. Sie wußte, daß der erste Eindruck wichtig sein würde, weil sich am ersten Tag bereits entschied, wie sie mit Marty und den Kolleginnen zurechtkam. Sharleen hatte ihr beim ersten Kennenlernen gut gefallen. Was Lila anlangte, hatte Jahne Zweifel.

Marty DiGennaro kam auch Jahne entgegen und führte sie an den Tisch. »Sharleen, Sie kennen Jahne Moore ja schon.« Er stellte die übrige Mannschaft vor. Jahne schüttelte jedem einzelnen die Hand. Eine Produktion verlangt stets Teamarbeit. Davon hängt manchmal alles ab. Auch als Star war man darauf angewiesen, daß die Crew mitzog.

Jahne setzte sich neben Sharleen. »Wie geht's?«

Sharleen flüsterte: »Das spielt keine Rolle. Sie sollten lieber fragen, was ich hier mache. Ich glaub, ich träume.«

Jahne lachte. Sie einigten sich darauf, sich von nun an zu duzen. Jahne mochte Sharleen um ihrer frischen Ehrlichkeit willen. Sie sollte Clover, die Texanerin spielen, Jahne die Cara, ein Mädchen aus New York. Im stillen hoffte Jahne, daß Sharleen sich ihre unschuldige Gradlinigkeit bewahrte. Eine allerdings abwegige Hoffnung. Denn in Hollywood würde Sharleen mehr als ihre Bibel brauchen, die sie ständig krampfhaft festhielt. Besonders bei diesem Körper.

Lila Kyle fehlte. Sie hatte ihren Garderobewagen noch nicht verlassen. An diesem Tag ging es weder um Kleidung noch Make-up, nur um eine Vorbesprechung, damit man sich allgemein bekannt machte. Spielte Lila bereits jetzt den großen Star?

Das Gemurmel ringsum erstarb. Lila Kyle kam gemächlich näher. Jede ihrer Bewegungen wirkte einstudiert. Lila trug enganliegende schwarze Lederhosen, schwarze hochhackige Stiefel und eine schwarze Lederjacke mit Reißverschlüssen und breiten gepolsterten Schultern. Schulterpolster und Stiefel wirkten bei Lilas Größe von fast einsachtzig nicht aufdringlich. Vielmehr schienen sie zu ihr zu gehören. Außerdem paßte das alles auch zu Lilas Rolle: Crimson, das reiche Mädchen aus San Francisco, das durchgebrannt war.

Lila blieb neben Marty stehen, der sich erhoben hatte. Doch bevor er jemanden vorstellen konnte, küßte sie ihn auf die Wange und wandte sich an die anderen. »Hallo. Ich bin Lila Kyle«, sagte sie mit volltönender Stimme. Sie legte eine kurze Pause ein. Jahne sah verblüfft, daß alle Männer sich von ihren Plätzen erhoben hatten. Lila setzte sich. Sie dachte an einen berühmten Ausspruch ihrer Mutter: Immer Distanz wahren. Das hatten wohl auch alle verstanden, sonst wären sie nicht aufgestanden. Auch das hatte Lila von Theresa gelernt: Der Auftritt mußte stimmen. Man mußte als letzte kommen und allen klarmachen, daß man eine Dame war. So streckten sie beizeiten die Waffen.

Marty stellte wieder alle namentlich vor. Doch Lila sah die einzelnen nicht an, sondern lächelte nur vor sich hin. Lila beobachtete Jahne verstohlen, die Marty zuhörte, als sei er der Herrgott persönlich. Lila wußte, daß Jahne in New York auf der Bühne gestanden hatte. Doch mehr wußte sie nicht von ihr. Eine kleine Person im Vergleich zu Lila. Höchstens eins-fünfundsechzig. Die Blondine besaß keine schauspielerische Erfahrung. Sie hatte gekellnert, wie Lila sich verächtlich in Erinnerung rief. Doch zweifellos war sie bildhübsch.

Lila machte sich keine Gedanken. Obwohl sie an sich gleichberechtigte Kolleginnen waren, was Marty betont hatte, nahm Lila sich vor, die anderen auszuschalten. Hier gab es nur einen Star. Und der hieß Lila.

Lila fühlte Sharleens Hand auf ihrem Arm und sah das junge Mädchen abweisend an. »Die Hosen sind einfach klasse. Wo haben Sie die her?« fragte Sharleen.

»Die habe ich anfertigen lassen. Sie sind von Florenz«, sagte Lila, weil sie versuchen wollte, freundlich zu erscheinen.

»Können Sie mir die Telefonnummer von Florenz geben? Solche würde ich mir auch gern machen lassen«, bat Sharleen.

Lila blinzelte ungläubig. Dann zwang sie sich zu lächeln. Die kann ja nicht wahr sein, dachte Lila. Sie sah die Bibel auf dem Tisch vor Sharleen und stöhnte innerlich.

»Florenz in Italien«, sagte sie, und Sharleen wurde puterrot.

Jahne Moore hatte Mitleid mit Sharleen. »Florenz ist eine Stadt, die für ihre Lederwaren berühmt ist«, klärte sie Sharleen auf. »Doch die meisten Amerikaner sprechen die Stadt so aus wie die Italiener: Firenze.«

Doofe Kuh, dachte Lila gereizt.

Die schoenen Hyaenen
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